Der Schweizer Radmarathon

von Martin Huber

Ein Rucken im Lenker, Adrenalinausschüttung, die Fahrt geradeaus, abwärts, Tempo 35, vor mir ein Rücklicht, die Finger an den Bremsen, alles wieder unter Kontrolle… Ich bin wohl kurz eingenickt.

Eine Pause muss her – jetzt gleich. Im nächsten Ort lege ich mich auf eine einladende Holzbank vor der Kirche. Meine beiden Begleiter tun es mir gleich. Bis zur Morgendämmerung um 4:45 Uhr schlafen wir eine Dreiviertelstunde.

Der letzte Berg hatte mir alles abverlangt. Die Straße führte vom Zürichsee hinauf nach Schindellegi. Knapp 400 Höhenmeter, im oberen Teil gute 12%. Danach die Abfahrt: schöne Straße, an sich kein Problem, allerdings klappt der Kreislauf runter, die Müdigkeit besiegt die Äuglein.

Am Start findet sich ein Plakat „Übermüdung tötet!“. Die tragische Geschichte der Race Across America-Legende Bob Breedlove, der 2005 tödlich verunglückte, mahnt zur rechtzeitigen Pause. Den Zeitpunkt hatte ich wohl verpasst. Doch nun von Anfang an.

Das Event

Jedes Jahr findet der unprätentiös benannte „Schweizer Radmarathon“ mit Start in Wangen an der Aare statt. Er führt in den langen Varianten über 605km mit 4.700 Höhenmetern bzw. 720km mit 5.600 Höhenmetern, wobei die 720er nach der ersten Zieldurchfahrt noch eine 115km lange Schleife dranhängen.

168 Teilnehmer gingen insgesamt auf die langen Distanzen. Davon verstehen sich 105 als Randonneure – also Ausdauersportler, die im Wesentlichen für und gegen sich selbst kämpfen, alles Wesentliche mit sich führen. Das ist meine Kategorie. Ich habe mich für die 605km entschieden.

Der Schweizer Radmarathon ist in der 720er Ausführung gleichzeitig Europameisterschaft der Langstreckenfahrer der Ultramarathon Cycling Association (UMCA) und eine von vier Möglichkeiten, sich in Europa für das ebenfalls von der UMCA ausgeschriebene Race Across America (RAAM) zu qualifizieren. Das RAAM ist eine Legende – ein 3.000 Meilen langes Rennen, bei dem die Fahrer die USA von der West- zur Ostküste durchfahren. Die Solo-Finisher sitzen im Olymp.

63 Teilnehmer starten also als Elite-Fahrer, die gegen Mittag – Stunden nach dem Start der Randonneure, im Minutentakt auf die Strecke gehen. Windschattenfahren ist Ihnen verboten. Ein 720km langer Solo-Ausritt verfolgt von einem unbarmherzigen Begleitfahrzeug.

Einige Teilnehmer sind RAAM-Finisher und somit auf Lebenszeit qualifiziert. 19 weitere von diesen einsamen Streitern haben schließlich die Qualifikation für das RAAM gemeistert, denn anzukommen genügt nicht, man muss – vereinfacht gesagt – innerhalb eines harten Zeitlimits ankommen, das der Beste zuvor Nichtqualifizierte Teilnehmer vorgibt.

Sonnenschein am Start

Der Start für uns Randonneure ist von 6 Uhr bis 10 Uhr. Wann man startet, kann man sich aussuchen. Es gilt allerdings zu beachten, dass alle zehn Stationen, an denen der Zeit-Chip eingelesen wird, erst zu bestimmten Zeiten öffnen: Als Basis gilt ein 24er-Schnitt – wer schneller fahren will, sollte also eher später starten, sonst muss er an den Stationen warten. Ich entscheide mich für einen Start um kurz vor 7 Uhr. Nicht, dass ich insgesamt einen 24er-Schnitt anpeilte, aber auf den ersten 100 Kilometern schon – Und so kam es dann auch.

Die ersten 180 Kilometer fahre ich allein. Gleich zu Beginn steht die schwerste Bergwertung auf dem Programm, der knapp 1.000 Meter hohe Kilchzimmersattel, dessen letzte Kilometer satte 18% Rampen aufweisen.

Nach dem Ausflug ins Jura geht es nach Deutschland in den Schwarzwald. In Bonndorf schickt ein ausgewachsenes Gewitter das Quecksilber in den Keller. Doch kaum eine Stunde später scheint wieder die Sonne und abgesehen von ein paar kleinen Güssen am Nachmittag wird es bis zum Ziel nicht mehr regnen.

In der Nähe von Stein am Rhein geht es wieder auf Schweizer Gebiet. Von nun an etwa 150km ohne nennenswerte Steigungen am Bodensee entlang und bis Sargans das Rheintal rauf. In diesem flachen Stück gab es durchweg Rückenwind. Außerdem hatte ich mich zwei Schweizern angeschlossen, mit denen ich bis zum Ziel zusammenbleiben sollte.

Gian-Andri war ein erstklassiges Zugpferd. Genau wie ich zu schwer für die Berge aber im Flachen eine Wucht. Raffaele hingegen eher ein Leichtbau, der aber aus irgendeinem Grund auf unsere Gesellschaft schwor… Vielleicht wegen meines Navis, das uns an einigen Kreuzungen den rechten Weg wies, wenn die spärlich eingesetzten offiziellen Schilder schwer sichtbar standen.

Zu unserem Erstaunen überquerte eine Katze die mit Feierabendverkehr gut gefüllte Bundesstraße ausgerechnet auf einem Zebrastreifen – einem Heiligtum in der Schweiz! Sie ließ sich bei der Querung erstaunlich viel Zeit und anhaltende Autos sorgten dafür, dass sie dieses Abenteuer unbeschadet überstand. Zweifelsohne hatten wir hier eine echte Schweizer Katze ausgemacht.

Halbzeit

In Sargans hatten wir 340km hinter uns gebracht. Es war nun 22 Uhr und ich legte mich für eine halbe Stunde hin. Als der Wecker piepte kam es mir allerdings wie eine dreißig sekündige Pause vor – und wenn wir uns drei nicht zur gemeinsamen Weiterfahrt verabredet hätten, wer weiß, ob ich mich nicht einfach noch mal umgedreht hätte.

Um elf saßen wir wieder gemeinsam im Sattel und versuchten nun bei den unvermeidlichen Freitagnacht-Disko-Rasern mit Leuchtreflektoren und allerlei blinkendem Tand ausreichende Aufmerksamkeit zu erreichen. Vorletztes Jahr ist ein Teilnehmer nachts von einem betrunkenen Autofahrer tot gefahren worden.

Endlich konnten wir die am Walensee entlang führende Hauptstraße über den Kerenzerberg verlassen. Ja, es kamen nun wieder hochprozentige Schwierigkeiten ins Programm. Wir fuhren nebeneinander und versuchten unsere Laune durch Smalltalk oben zu halten. Ein Wagen überholte, parkte in der Kehre vor uns und ein Kamerateam stieg hektisch aus. Scheinwerfer erhellten die Nacht, der Kameramann kniete sich auf der Straße und richtet seine Kamera auf uns. Donnerwetter, dachte ich, die machen eine Reportage über das Event. Und ich komm drin vor. Als ich mich dem Team näherte ging ich in den Wiegetritt und zog den Bauch ein. Unser Gespräch verstummte. Was ist das nun für ein Geräusch? Noch eh ich mich umdrehen kann, zieht der auch schon mit doppelter Geschwindigkeit an uns vorbei. Hinter ihm sein Begleitfahrzeug. So, nun hatte der erste RAAM-Qualifikant, Kevin Biehl, also die fünf Stunden Vorsprung, die ich mir rausgenommen hatte, wettgemacht. Ernüchterung. Ich, degradiert zum dicklichen Statisten eines Heldenepos.

Des Nachts am Zürichsee

Um kurz vor zwei erreichten wir Pfäffikon am Zürichsee, Station 6 von 10, km400. Ich sitze auf den Stufen vor der Station und mampfe ein Schinkensandwich, grüble im Zeitlupentempo über den Sinn des Daseins und werfe ab und an einen Blick auf die beiden Kollegen, die sich für ein paar Minuten hingelegt haben.

Schon wieder biegt ein Auto auf den Parkplatz ein, hörbares Bremsen, vier Personen springen raus. Da kommt der zugehörige Elite-Fahrer um die Ecke. Rad wird abgenommen, mit Flaschen gefüllt. Der Fahrer ist kurz orientierungslos. „Fabio, komm!“, ruft eine Begleiterin, rennt zum Kontrolltresen. Die Magnetkarte entlockt dem Gerät ein Piepsen. „Ich muss die Nummer sehen!“ ruft der Kommissär. Fabio Biasolo, elfmaliger Teilnehmer des RAAM, klackert, so schnell es eben geht mit Radschuhen, zum Tresen, dreht sich, läuft zurück, springt aufs Rad. „Oben nach rechts!“ ruft ihm die Frau nach. Die vier springen ins Auto und hinterher. Über Fabio ist zu lesen, dass er 2008 den eine-millionsten Radkilometer seines Lebens gefahren ist. Mein Gott!

Sprachlos beiße ich von meinem Sandwich ab.

Dann kommt Beny Furrer. Ein Phänomen. Beny Furrer hat bei einem Motorradunfall 1986 einen Arm verloren. Beny Furrer wird sein Rennen in 25h13 beenden. Aber als RAAM-Finisher ist er eh qualifiziert…Wahnsinn: 2003 hat er beim RAAM Platz 11 belegt – wie gesagt mit nur einem Arm. Ab 15% Steigung, schreibt er, kann er nicht mehr in den Wiegtritt gehen… Die bewegende Geschichte, wie er nach dem Unfall das Gehen wieder erlernen muss, ins Leben zurückfindet, lest ihr auf seiner Website. Googelt ihn!

Ich beende mein Sandwich und entschließe mich, meine beiden Mitstreiter zu wecken. Zeit, mal wieder ein paar Kilometer zu machen.

Der Morgen

Hake ich hier mal nach der anfangs beschriebenen Einschlafepisode um 4 Uhr früh wieder ein. Wir umrunden den Zuger See und in Küssnacht geht tatsächlich die Sonne auf. Der Vierwaldstättersee ist eine Pracht. Dann fahren wir das Emmental hoch, wo die Schweizer die Löcher in den Käse stanzen.

Mir geht es zusehends besser. Kilometerlange Führungsarbeit. Ich weiß auch nicht, wie das jetzt wieder geht?!

Die letzten 40km gibt es dann ordentlichen Gegenwind. Aber beschweren kann ich mich wirklich nicht, denn meist kam der Wind von hinten…

Nach knapp unter 30 Stunden erreiche ich das Ziel.

www.radmarathon.ch

Unten: 2 Uhr – Pfäffikon: Raffaele und Gian-Andri, der auch nachts in kurz fuhr…

Foto: Jacques Moser